
Am Dienstag durfte ich mich mit meinem Teammate Sebastian Hahn in das Goldene Buch Nordhorns eintragen, weil wir als Team „Unterricht mit Psychos“ deutschsprachige Poetry-Slam-MeisterInnen 2020 wurden. Sebastian und ich sind ein kritikfähiges, diszipliniertes und kreatives Team, in unseren Texten steckt viel Arbeit, Know-how, Herzblut und Spaß. Dahinter steckt aber noch viel mehr:
Der folgende Text erklärt, warum ich Zeit habe, Künstlerin und Lehrerin zu sein, und warum ich (fast) nie über mich selbst schreibe. Er ist im Rahmen eines sehr spannenden Formats entstanden: Profis hatten 2,5 Stunden Zeit, einen Text zum Thema „Drunter und Drüber“ verfassen, und mussten damit noch am selben Abend gegen Rookies antreten:
In der Küche wartet Milchkaffee
In ihrem Leben geht nichts drüber und schon gar nicht etwas drunter,
denn ihr Leben ist der Masterplan, ihr Leben hat Struktur,
sie hat Kinder, Job und Ehemann und mitunter
ist sie wie jetzt eben – in ihrem Leben oft auf Tour.
Sie hat nicht mal das Gefühl, dass sie damit groß jongliert,
denn ihre Tage sind recht einfach, so famos durchstrukturiert.
Wenn sie aufwacht, dann sortiert sie in Gedanken, was sie anzieht,
wenn sie aufsteht, guckt ihr Mann kurz, weil er weiß, dass sie jetzt blankzieht.
In der Küche wartet Milchkaffee und ein Sandwich, wirklich taufrisch,
er weiß ganz genau, dass sie gleich geht, und sie weiß ganz genau, was drauf ist.
Und das gibt den beiden Sicherheit in einer Welt der nahnden Krise,
der Welt der Scheidungen, der Schicksalsschläge, der scheinbar zu weit weggen Paradiese.
Auf ihrem Weg zur Arbeit morgens fährt sie sich den Kopf frei,
sie plant den Morgen, denn in ihrem Job, da muss sie wirklich top sein.
sie arbeitet mit jungen Menschen, und sie ärgert sich fast täglich,
weil die Kinder ziemlich fresh sind, aber das Leben ist halt eklig,
sie sind Opfer ihrer Eltern, unserer Medien, des Systems,
sie lebt jeden Tag ihr Credo, sie immer wieder neu zu sehen,
sie zu nehmen, wie sie ihre eignen Kinder von andern gern behandelt sähe,
das wahrznehmen, was sie können, und nicht das, was sie nicht verstehen.
Und wenn sie auf die Auffahrt fährt, dann sieht sie, wie ihr Ehemann,
von der Couch aufsteht, die Tür öffnet und fragt, was er ihr abnehm‘ kann.
Sie weiß, dass innem großen Topf schon warmes Essen für sie da ist.
Weil sie, wie jeden Tag seit 15 Jahren, mittags einfach gar ist.
Und ihr Mann, der macht den Haushalt, macht den Abwasch, putzt die Schuhe,
macht die Wäsche, macht das Essen und macht all das in Seelenruhe,
wie ein Mönch, der innem Zen-Garten im Kies so seine Kreise zieht,
und sie möcht nie, dass das aufhört, wenn sie ihm leise dabei zusieht.
Und dann sitzt sie auf dem Sofa, wird ganz still und ganz bedächtig,
in ihrem Kopf sind ganz viel Menschen, deren Leben nicht gerecht ist,
deren Leben ganz chaotisch ist und die sie echt bewegen,
Menschen, denen wir fast täglich und fast überall begegnen,
und dann will sie mit den besten Worten, diesen Menschen eine Stimme geben,
vielleicht helfen diese Worte, das Gescheh‘ne zu sortieren,
vielleicht hilft ein wenig Ordnung, sich nicht im Chaos zu verlieren,
vielleicht gibt sie nicht nur Stimme, sondern auch ein wenig Richtung,
vielleicht erreichen ihre Worte grade heute doch das Richtige,
vielleicht liebt sie nur das Rampenlicht und ihr Sprungbrett ist die Dichtung,
sagen Menschen, die sie scheiße finden, vielleicht ist es auch ne Mischung,
vielleicht ist es ja letztendlich eigentlich auch gar nicht so wichtig.
Denn abends steht sie auf der Bühne und dann ist sie richtig glücklich,
weil sie die Menschen, denen sie begegnet, auf die Bühne mitnimmt.
Ihr Leben ist das Gegenteil von drunter und von drüber.
Ein bisschen täglich grüßt das Murmeltier, und das halt immer wieder,
und diese Ruhe macht sie friedlich, macht sie frei, auch von sich selbst,
über sie gibt‘s nichts zu schreiben, im Grunde nicht mal diesen Text,
sie ist der Inbegriff von kein Problem und sie hat echt guten Sex, (was ich hier kurz angemerkt haben wollte)
sie hat weder Langeweile, noch das Gefühl, was zu verpassen,
denn das Leben, das sie nicht lebt, kann sie fühlen und in Worte fassen,
Und so steht sie abends auf der Bühne für die Menschen, über die sie schreibt,
Menschen deren Leben Chaos ist, Menschen in Not und Einsamkeit.
Ihre Worte ordnen Chaos durch Struktur, Rhythmus und Reim,
ihre Texte geben Richtung, ihre Ruhe wird zum Schrei,
das ist alles, was sie ist, und mehr kann sie gar nicht geben.
Bühne drunter, Decke drüber und dazwischen entsteht Leben.